Morgen, morgen und wieder morgen

Wenn du in den 90er Jahren schielend auf computergenerierte Bilder gestarrt, Indie Games gezockt und Ghost in the Shell geliebt hast, dann lies dieses Buch! (Wenn nicht: don't believe the hype)

Sam liegt mit einem kom­pli­zier­ten Kno­chen­bruch im Kran­ken­haus, lei­det unter Schmer­zen und dem Ver­lust sei­ner Mut­ter, und ver­schließt sich immer mehr. Da spa­ziert Sadie in sein Leben. Die Kin­der spie­len stun­den­lang zusam­men Super Mario und wer­den dabei Freun­de – bis Sam her­aus­fin­det, dass Sadie sich die­se Zeit als Sozi­al­stun­den in Vor­be­rei­tung auf ihre Bat Miz­wa anrech­nen ließ. Vie­le Jah­re spä­ter tref­fen sie sich zufäl­lig wie­der. Es sind die 90er Jah­re, sie sind Stu­den­ten und wie­der sind es Com­pu­ter­spie­le, die ihre Freund­schaft auf­le­ben las­sen. Doch dies­mal ent­wi­ckeln sie selbst ein Spiel, unter­stützt von Sams Mit­be­woh­ner Marx als Pro­du­zent – und wer­den auf einen Schlag erfolg­reich. Das Trio grün­det die Fir­ma „Unfair Games“ und wird unzer­trenn­lich. Doch was wie ein Hap­py End klingt, ist nur ein Höhe­punkt im Auf und Ab der Wel­len, die das Leben mit sich bringt. 

Manch­mal hat­te ich so schlim­me Schmer­zen. Und das Ein­zi­ge, was mich davon abge­hal­ten hat, ster­ben zu wol­len, war die Mög­lich­keit, mei­nen Kör­per zu ver­las­sen und zeit­wei­se in einen ande­ren zu schlüp­fen, der per­fekt funk­tio­niert – bes­ser als per­fekt sogar –, und Pro­ble­me zu lösen, die nicht mei­ne eige­nen waren.

Sam in „Mor­gen, mor­gen und wie­der morgen“

Für Sam, des­sen Leben von Schmer­zen und sei­nem Han­di­cap geprägt ist, sind Com­pu­ter­spie­le Teil einer Coping-Stra­te­gie. Sei­ne Geschich­te erin­ner­te mich an mei­ne (lang zurück­lie­gen­de) Diplom­ar­beit, ein Com­pu­ter­spiel­kon­zept für Krebs­kran­ke, das auf der Wirk­sam­keit von Spiel­wel­ten auf die Rea­li­tät der Spie­len­den auf­baut. Spie­le, die nicht nur Ablen­kung ver­schaf­fen, also eine oft kri­ti­sier­te Rea­li­täts­flucht bie­ten, son­dern para­do­xer­wei­se gleich­zei­tig dabei hel­fen, ihre Rea­li­tät emo­tio­nal bes­ser zu ver­ar­bei­ten. Spä­ter wird auch Sadie die­se Erfah­rung machen. Doch erst­mal sind für sie Com­pu­ter­spie­le mehr eine intel­lek­tu­el­le Kunst­form. Und so sind sie nicht immer nur der Kitt in Sams und Sadies Freund­schaft, das Zeug, das sie zusam­men hält, son­dern oft auch Grund für Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten und Reibungen.

Die­ser Roman greift so vie­le inter­es­san­te The­men auf, dass ich sie kaum auf­zäh­len kann. Man erhält Ein­blick in die „Strug­gles“ jun­ger Krea­ti­ver, die mit einer gro­ßen Visi­on star­ten, das Kön­nen zur Umset­zung aber erst erler­nen müs­sen. Auch wenn wir uns mit Sam, Sadie und Marx in der Sze­ne der mora­lisch und ästhe­tisch moti­vier­ten Indie Games befin­den, wer­den eher neben­säch­lich auch Gewalt und Sexis­mus in der Gam­ing-Welt the­ma­ti­siert. Wer erin­nert sich noch an die fan­ta­sie­vol­len Spie­le von That­game­com­pa­ny: Flow, Flower und Jour­ney (das im Buch auch Erwäh­nung fin­det)? Ich habe auch wie­der vol­ler Weh­mut an „Aqua­ria“ gedacht, und wie ich gan­ze Näch­te mit der Hel­din durch zau­ber­haf­te Unter­was­ser­wel­ten geschwebt bin. 

Über­haupt weckt die­ses Buch vie­le nost­al­gi­sche Erin­ne­run­gen an die 90er und 00er Jah­re, wie „Das Magi­sche Auge“ mit sei­nen com­pu­ter­ge­nerier­ten Bil­dern, bei deren Betrach­tung man schie­len muss­te, um den ver­bor­ge­nen 3D-Effekt zu sehen. An Sadies Wand hängt Hoku­sais Wel­le (das auch das Buch­co­ver ziert) und mich an die­sen gan­zen Hype um japa­ni­sche Kul­tur und Gra­fik­sti­le erin­nert, die so vie­le Man­ga- und Ani­me-Fans schwer inspi­rier­ten und zur Nach­ah­mung ani­mier­ten. In dem Zusam­men­hang gefällt mir die Sicht­wei­se auf das The­ma der kul­tu­rel­len Aneig­nung, wie Sam es sieht: eine Welt, in der sich jede Kul­tur nur auf die eige­ne bezieht, ist kei­ne Welt, in der ich leben möch­te und außer­dem kei­ne, in der ich als Mensch mit mehr­di­men­sio­na­ler Migra­ti­ons­ge­schich­te einen Platz hät­te. Und damit sind wir beim nächs­ten gro­ßen The­ma die­ses Romans.

Und jeder Mensch aus zwei Kul­tu­ren kann dir eines sagen: Zwei Hälf­ten zu sein, bedeu­tet, nichts Gan­zes zu sein.

Sam in „Mor­gen, mor­gen und wie­der morgen“

Ins­be­son­de­re Sam und Marx erle­ben den ganz nor­ma­len All­tags­ras­sis­mus, den vie­le Men­schen bis heu­te gar nicht rich­tig sehen (wol­len) und über den selbst Betrof­fe­ne – ins­be­son­de­re zu jener Zeit – sich oft gar nicht bewusst waren, ihn eben ein­fach als „nor­mal“ emp­fun­den haben. Unse­re Haupt­cha­rak­te­re sind jüdisch-ame­ri­ka­nisch, jüdisch-korea­nisch-ame­ri­ka­nisch und japa­nisch-korea­nisch-ame­ri­ka­nisch geprägt und sicher­lich ver­ar­bei­tet die Autorin hier eige­ne Erfahrungen. 

In einer Gesell­schaft mit vor­herr­schen­dem Schub­la­den­den­ken ist es schier unmög­lich, dar­aus aus­zu­bre­chen, wie Marx erlebt, der als ange­hen­der Schau­spie­ler mit asia­ti­schem Äuße­ren immer wie­der nur auf die mys­tisch-exo­ti­sche Neben­rol­le beschränkt wird und sei­ne Lei­den­schaft für das Thea­ter irgend­wann auf­gibt. Auch Sam reflek­tiert viel über sei­ne Iden­ti­täts­bil­dung und Zugehörigkeit.

Beson­ders ver­blüff­te Sam, wie sehr das eige­ne Selbst­ver­ständ­nis von der Umge­bung abhängt. In Korea­town hielt nie­mand Sam für einen Korea­ner. In Man­hat­tan hat­te nie­mand geglaubt, er wäre weiß.

Die Hand­lung wird außer­dem geprägt vom unter­schied­li­chen sozia­len Sta­tus der Figu­ren. Wäh­rend Sadie und Marx finan­zi­ell gut abge­si­chert sind, ist für Sam Geld immer auch ein The­ma, das sei­ne Ent­schei­dun­gen mit beeinflusst. 

Und trotz der vie­len tol­len The­men ging mir die­ses Buch nicht ganz so nahe, wie ich erwar­tet hat­te. Ich bekom­me nicht zu fas­sen, wor­an es lag. Viel­leicht dar­an, dass Sadie manch­mal nerv­te oder weil die Hand­lung stel­len­wei­se zu sehr vor sich hin plät­scher­te, anstatt mich mit­zu­rei­ßen, wie das Mar­ke­ting rund um die Ver­öf­fent­li­chung ver­sprach? Der gro­ße Hype um so ein Buch treibt natür­lich auch die Erwar­tun­gen ins Uner­mess­li­che. Und daher füh­le ich mich ver­pflich­tet zu sagen, dass ich die­sen Roman nicht vor­be­halt­los jedem emp­feh­len kann. Trotz uni­ver­sel­ler The­men wie Freund­schaft und Lie­be muss man schon ein Nerd sein, andern­falls wir­ken die Figu­ren womög­lich fremd­ar­tig und unin­ter­es­sant. In die­sem Buch wer­den außer­dem so vie­le Games und ande­re Refe­ren­zen an die „nerdi­ge“ Pop­kul­tur der 90er und 00er Jah­re genannt (also kei­ne Hit­pa­ra­den), dass Leser ohne Bezug dazu an vie­len Stel­len gelang­weilt sein wer­den. Das ist scha­de, denn auch wenn es kein Lese­high­light für mich war, so ist „Mor­gen, mor­gen und wie­der mor­gen“ doch ein wirk­lich gutes, lesens­wer­tes Buch. Die Autorin ent­wi­ckelt ihre Figu­ren nach­voll­zieh­bar, brach­te mich über die Lek­tü­re hin­aus zum Nach­den­ken und ließ mich viel­fach Zita­te mar­kie­ren. Gabri­el­le Zevin wer­de ich mir mer­ken. Der Fun­ke springt viel­leicht beim nächs­ten Level über. 

Was ist ein Spiel? Es ist mor­gen, mor­gen und wie­der mor­gen. Die Mög­lich­keit einer unend­li­chen Wie­der­ge­burt und unend­li­chen Erlö­sung. Die Vor­stel­lung, dass du, solan­ge du wei­ter­spielst, gewin­nen kannst. Kein Ver­lust ist von Dau­er, denn nichts ist von Dau­er, niemals.

Marx in „Mor­gen, mor­gen und wie­der morgen“

Buchcover "Morgen, Morgen und wieder Morgen" von Gabrielle Zevin

Mor­gen, mor­gen und wie­der mor­gen
Gabri­el­le Zevin
Eich­born, 2023
ISBN 9783847901297

Die­ses Buch wur­de mir als kos­ten­lo­ses Rezen­si­ons­exem­plar über Vor­ab­le­sen zur Ver­fü­gung gestellt.

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