Kirmes im Kopf

Wenn du mit den einfachsten Alltagsaufgaben überfordert bist und immer wieder im Leben auf Ablehnung stößt, weil du irgendwie anders tickst, dann könnte dieses Buch dein Rettungsring sein.

Für Ange­li­na Boer­ger war es ein Erwe­ckungs­er­leb­nis, als sie den Erfah­run­gen einer Frau mit ADHS lauscht und sich dar­in wie­der­fin­det. End­lich hat sie eine Ant­wort auf die quä­len­den Fra­gen, war­um sie so ver­peilt ist, war­um sie der All­tag manch­mal so viel Anstren­gung kos­tet, war­um sie in vie­len Din­gen so ganz anders tickt als die Mehr­heit. Sie infor­miert sich wei­ter und setzt alle Hebel in Bewe­gung, um ganz offi­zi­ell eine Dia­gno­se zu bekom­men. Als Jour­na­lis­tin fühlt sie sich ver­pflich­tet, ande­re Men­schen am Gelern­ten teil­ha­ben zu las­sen, indem sie in leicht ver­ständ­li­cher Form dar­über schreibt und kur­ze Video­bei­trä­ge ver­fasst. Ihre Platt­form dafür ist Insta­gram, wo sie mit ihrem Pro­fil @kirmesimkopf nicht nur Auf­klä­rungs­ar­beit leis­tet, son­dern eine Com­mu­ni­ty bie­tet, in der sich Men­schen mit ähn­li­chen Erfah­run­gen end­lich ver­stan­den füh­len. Mit ihrem Buch gibt sie ihr Wis­sen und ihre Erfah­run­gen jetzt gebün­delt wei­ter und bie­tet Ein­blick in das Leben als Erwach­se­ne und spe­zi­ell als Frau mit ADHS.

Für mich ist das The­ma inter­es­sant, weil ich ADHS­ler in mei­nem nächs­ten Umfeld habe und auf die har­te Tour ler­nen muss­te, dass ADHS tat­säch­lich eine ande­re Art des Den­kens und der Wahr­neh­mung ist, die zu teils exis­ten­ti­el­len Pro­ble­men im All­tag und im gemein­schaft­li­chen Mit­ein­an­der führt. Wie vie­le Men­schen hat­te ich bis dahin mei­ne Zwei­fel, ob es ADHS wirk­lich gibt oder das nur eine Ent­schul­di­gung für eine schlech­te Erzie­hung oder man­geln­de Selbst­dis­zi­plin ist. Aber in mei­ner Rol­le als unfrei­wil­li­ger „Coach“ habe ich gelernt, dass es tat­säch­lich eine beson­de­re „Gehirn­ver­drah­tung“ ist, die mit den offen­sicht­lich nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen einen hohen Lei­dens­druck erzeugt – aber auch eini­ge posi­ti­ve Aspek­te mit sich bringt. Was sich auf der Schat­ten­sei­te in Impul­si­vi­tät, Unge­duld und Über­emp­find­lich­keit äußert, kann im rich­ti­gen Licht zu Spon­ta­nei­tät, Krea­ti­vi­tät und Ein­fühl­sam­keit werden.

Der Autorin ist es beson­ders wich­tig, ADHS in die­ses ande­re Licht zu rücken: es nicht als Krank­heit oder Behin­de­rung, son­dern als eine Eigen­art oder Eigen­schaft zu betrach­ten, die eben in unse­rer Gesell­schaft häu­fig zu Kon­flik­ten und einem immensen Lei­dens­druck bei ADHS­lern füh­ren kann. Gut fin­de ich, dass sie akri­bisch auf Begriff­lich­kei­ten ein­geht, denn Spra­che beein­flusst die Wahr­neh­mung und inne­re Ein­stel­lung (auch wenn Hater des Gen­derns das nicht wahr­ha­ben wol­len). Sie ver­mei­det das Wort „Betrof­fe­ne“ und geht auch dar­auf ein, war­um ADHS ihrer Mei­nung nach eben kei­ne Krank­heit und kei­ne Behin­de­rung dar­stellt. Das fand ich sehr inter­es­sant und wer­de ver­su­chen, es stär­ker zu verinnerlichen.

Ein Pro­blem sehe ich aller­dings dar­in, dass sie – wie auch schon ande­re Autoren, die selbst ADHS haben – das damit ver­bun­de­ne Leid zu sehr bei­sei­te­schiebt und viel Anstren­gung unter­nimmt, um ADHS als etwas weni­ger Defi­zi­tä­res und etwas mehr Posi­ti­ves zu defi­nie­ren. Der Ansatz ist nicht falsch, es gibt Men­schen mit ADHS Selbst­ver­trau­en. Aber nach mei­ner Erfah­rung ist das damit ver­bun­de­ne Leid so groß, dass die defi­zi­tä­re Sei­te auf kei­nen Fall klein­ge­re­det wer­den soll­te. Sie zählt sie zwar alle auf, die täg­li­chen Strug­gles und auch die Kom­or­bi­di­tä­ten, aber bleibt dabei sehr ober­fläch­lich. Viel­leicht, weil sie selbst mit ihrem ADHS ganz gut „klar­kommt“. Es wäre bes­ser gewe­sen, auch die Erfah­run­gen ande­rer Men­schen mit ein­zu­ar­bei­ten, um die Viel­schich­tig­keit von ADHS zu zei­gen und die Aus­wir­kun­gen in allen Lebens­be­rei­chen greif­ba­rer zu machen.

Für Betrof­fe­ne (ups, nun habe ich das Wort doch ver­wen­det) ist „Kir­mes im Kopf“ aber bestimmt trotz­dem sehr wert­voll. Sie erklärt den schwie­ri­gen Weg hin zu einer Dia­gno­se, gibt prak­ti­sche Tipps und macht auf wei­te­re ADHS-„Aufklärer“ auf­merk­sam, die sich auf Insta­gram tum­meln. In man­chen Rezen­sio­nen habe ich gele­sen, dass die Erwäh­nung die­ser Insta­gram-Pro­fi­le als stö­rend emp­fun­den wird, aber ich glau­be, für ADHS­ler auf der Suche nach per­sön­li­chen Erfah­run­gen ande­rer bie­tet die­se Platt­form eine gute Mög­lich­keit, sich zu ver­net­zen und Coping-Stra­te­gien ken­nen­zu­ler­nen. Daher bie­tet die­ses Buch eine hilf­rei­che Ergän­zung zu dem immer grö­ßer wer­den­den Ange­bot an Sach­bü­chern zum The­ma ADHS im Erwachsenenalter.


Buchcover "Kirmes im Kopf" von Angelina Boerger

Kir­mes im Kopf
Ange­li­na Boer­ger
Kie­pen­heu­er & Witsch, 2023
ISBN 9783462004618

Die­ses Buch wur­de mir als kos­ten­lo­ses Rezen­si­ons­exem­plar über Net­Gal­ley zur Ver­fü­gung gestellt.

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