Ich muss gestehen, der zehnte Band der Provence-Krimi-Reihe um Capitaine Roger Blanc hat mich etwas zweifeln lassen, in welcher Zeit die Handlung denn nun spielt. Direkt zuvor hatte ich den Vorgänger gelesen, da herrschte noch das Chaos des ersten Lockdowns. Jetzt, einen Monat später, ist Covid nur noch eine Randnotiz, die Straßen und Restaurants sind voller Menschen und niemand trägt Mundschutz. Vielleicht gab es Kritik an zu viel Realismus im neunten Band, so etwa: Wer möchte das später denn noch lesen, da kann man sich doch bald nicht mehr dran erinnern und dann wirkt das Buch nur noch befremdlich – oder ist es eher so, dass man bitteschön nicht mehr daran erinnert werden will? Wie auch immer, die Handlung von „Stille Sainte-Victoire“ spielt tatsächlich im April 2020 und doch ist alles ganz normal. Punkt und weiter im Text.
Cay Rademacher wendet sich diesmal wieder einem eher klassischen Kriminalfall zu: Eine Leiche wird gefunden und das große Rätselraten beginnt, wer im Umfeld des Toten ein Motiv und die Gelegenheit gehabt haben könnte, zum Mörder zu werden. Der Tote war ein Ingenieur und Gutachter des Staudamms am Berg Sainte-Victoire, außerdem ein Langweiler und Eigenbrötler, der keine Feinde zu haben schien. Doch ermordet wurde er mit einem versteinerten Dinosaurier-Zahn. Die Spur führt schnell zu seinem Zwillingsbruder, einem berühmten Paläontologen, der in der Nähe nach Fossilien gräbt. Hat der Mörder sein Opfer vielleicht verwechselt?
Die Ermittlungen wirken routiniert und schleppen sich stellenweise etwas träge dahin. Was die Lektüre dennoch spannend macht, sind die Einblicke in das überaus lukrative Geschäft mit Fossilien und die Sorgen und Nöte der Paläontologen. Aber auch die Geschichte des Staudamms ist faszinierend. Und zu guter Letzt: wieder einmal stelle ich fest, wie toll Cay Rademacher schreiben kann. Der Berg Sainte-Victoire, der durch zahlreiche Gemälde des Impressionisten Paul Cézanne berühmt wurde, spielt zwar nur eine Nebenrolle. Aber ich wage zu behaupten, der Autor zeichnet Licht und Landschaft mit seinen Worten gleichermaßen eindrucksvoll, wie der Künstler es mit Pinsel und Palette vermochte. Für Liebhaber der Provence ein Genuss!
Der Himmel war wie blaues Glas, makellos und so hell, als würde er aus sich selbst heraus leuchten. Trotzdem lag nun ein Hauch von Rosa auf den grauen Flanke der Sainte-Victoire.
Stille Sainte-Victoire
Cay Rademacher
DuMont, 2023
ISBN 9783832181871
Dieses Buch wurde mir als kostenloses Rezensionsexemplar über NetGalley zur Verfügung gestellt.