Auch wenn der unsichtbare Erzähler (der von sich selbst im Plural „wir“ spricht, als ob er die vielen Persönlichkeiten repräsentiert, deren Leben er betrachtet), in seiner Einleitung des Buches die Bemerkung macht, dass es eben nichts Bemerkenswertes über „uns“ zu sagen gibt, empfinde ich die folgenden 300 Seiten keinesfalls als langweilig. Das kleine 400-Seelen-Dorf an der Westküste Islands scheint den Menschen nicht viel zu bieten – nicht mal eine Kirche oder einen Friedhof gibt es. Viele der Bewohner wohnen verstreut auf Landhöfen, manch einer ist arbeitslos oder langweilt sich in einem allzu ruhigen Job, gelegentlichen Zeitvertreib bietet nur das 2‑wöchentliche Kino, der jährliche Ball oder die kleinen Skandale in der Nachbarschaft. Da wäre zum Beispiel der Direktor der Strickfabrik, erfolgreich, wohlhabend und mit der perfekten Bilderbuchfamilie gesegnet, der von einem Tag auf den anderen beginnt auf Latein zu träumen, Fabrik und Familie aufgibt und sein Leben fortan nur noch der Astronomie widmet. Mit dem Kopf in den Sternen philosophiert „Der Astronom“ jeden Monat öffentlich über das Leben. Die anderen Bewohner hören ihm zwar gelegentlich zu, bleiben mit den Füßen jedoch fest auf dem Boden und mit den Gedanken beim Alltäglichen hängen. David gruselt sich vor Geistern in der Lagerhalle, in der er arbeitet, Kjartan und Kristin treffen sich am Grenzzaun zwischen ihren Höfen, um eine irrationale Affäre auszuleben, der Globetrotter Matthías kehrt nach 6 Jahren als Suchender zurück, ohne gefunden zu haben (und wirkt doch so viel freier als die anderen), der Bauer Benedikt hat vor lauter Einsamkeit vergessen wie man sich verliebt … und noch viele Geschichten mehr erfahren wir durch die Augen des Erzählers, der alles weise kommentiert.
Die Geschichten wirken wie Polaroids, Schnappschüsse aus dem Leben unterschiedlicher Menschen, ihrer Träume, Leidenschaften, aber auch Hemmungen und Sünden, die guten und die schlechten Seiten im Leben. Es sind zwar einfache Menschen mit eintönigem Leben und ohne große Ideale, aber eben deshalb fühlen sie sich so nah an. Nebenbei zeichnet sich ein Bild von Island ab: Weiden, Hügel, Brandung, Meer, über allem der unendlich klare Sternenhimmel. Die Menschen an diesem Ort wirken einerseits isoliert vom Rest der Welt, andererseits so viel näher dem Überirdischen, dass sie selbst wie kleine Sterne wirken, die am Himmel gelassen ihre Bahnen ziehen. Manchmal kommen sie sich näher bis hin zu explosiven Kollisionen, doch im Großen und Ganzen leben sie im Augenblick und nehmen ihr Schicksal mit Gelassenheit an. Wehmütig klingen die Zeichen des Umbruchs an, etwa wenn der Fernfahrer Jakob die neue Straße über den Pass bedauert, die ihm den Spaß an der serpentinengewundenen alten Straße mit der tollen Aussicht beraubt. Beschleunigung, Konsum- und Zeitvertreib-Mentalität lassen sich auch in diesem entlegenen Winkel Islands nicht aufhalten.
Manche Sätze möchte man sich anstreichen, rausschreiben, immer wieder vorhalten, weil sie so weise sind oder so poetisch oder so wahr. Das Buch ist voller Melancholie, mit leisen poetischen Tönen, aber oft gibt es auch Anlass zum Schmunzeln oder Aufschrecken. Jón Kalman Stefánsson schreibt mit viel Liebe zu den Menschen, der Landschaft, dem einfachen Leben, mit allem was dazu gehört, Licht und Dunkel. Ein berührendes Buch, das Einblick in die isländische Seele gibt.
Sommerlicht, und dann kommt die Nacht
Jón Kalman Stefánsson
Piper, 2013
ISBN 9783492302289