Mit Gänsehaut verfolgte ich die ersten Stunden des Hörbuchs (übrigens schön geredet, äh, gelesen von Karin Kaschub), denn: Ein paar Parallelen zwischen der Romanheldin und mir sind geradezu schon unheimlich:
Annika ist Anfang 40. | Mein Alter beginnt auch mit einer 4 (ähem)! |
Annika hat gerade ihre IT-Firma verkauft. Ein Kunde der Firma ist eine Schweizer Bank. | Ich bin in einer IT-Firma angestellt. Mit Schweizer Bankkunde! |
Annika hat das hektische Großstadtleben satt und zieht sich aufs Land nahe der Schlei zurück. | Same here! Bin erst vor wenigen Monaten aus einer Metropolregion nach Angeln gezogen. |
Annika fungiert noch als Beraterin und hält in Blazer und Jogginghose gekleidet Videokonferenzen. | That’s my life! Make up und Jogginghose, Home Office rules! |
Annika findet Reetdach-Katen ganz toll. | Na sowas! Ich auch! |
Annika kauft sich spontan noch das Nachbarhaus, zusätzlich zu ihrem bereits vorhanden Waldhaus (mit Reetdach). | Moment, hier stimmt was nicht! Warum wohne ich nur zur Miete unterm Dach (Ziegeldach)? |
Annika hat einen Hund und zwei Männer, die sie vergöttern. | Ähhhhm … |
Als ich dann noch hörte, wie Annika mal eben zum Aperol schlürfen nach Olpenitz fährt oder beim Baden in der Ostsee gedanklich ihr neues Haus zu einem Feriendomizil für andere gestresste Städter ausbaut, da hörte der Spaß an der Geschichte für mich auf. Denn die Realität sieht so aus: bereits seit vielen Jahren steigen auch hier die Immobilienpreise (und damit auch die Mieten). Während der Pandemie im letzten Jahr sind sie dann regelrecht explodiert! Unter den Einheimischen ist es besonders für die junge Generation schwer bis unmöglich, ein bezahlbares Häuschen zu finden. Bitte bedenken: hier arbeitet außer mir wahrscheinlich niemand für IT-Firmen mit Schweizer Bankkunden, sondern die Arbeitgeber heißen Böklunder, Netto oder Bundeswehr.
Es macht mich traurig, mit welcher Sorglosigkeit die Autorin Gentrifizierung und Städter-Dekadenz romantisiert. Das Aufkaufen von Landhäusern und deren Ausbau zu Wochenend- und Ferienhäusern (oder auch Rentnerdomizilen) nimmt mittlerweile besorgniserregende Ausmaße an – und erinnert damit an eine Entwicklung, nur einen Steinwurf westlich von hier. Man spricht auch hier jetzt schon von einer „Versyltung“. Kürzlich erst ein durchschnittliches Haus zum Kauf auf Arnis gesehen (ohne Reetdach): für irgendwas um eine Million Euro. Von den Neubausünden für Partypeople, die mit ihrem Porsche SUV mal eben übers Wochenende angedüst kommen, um an der Beach Bar einen Gin Tonic zu kippen, wollen wir erst gar nicht reden.
Genug der Aufregung, zurück zum Buch: die Lovestory um Annika und ihre zwei Verehrer ist leider ziemlich langatmig und vorhersehbar. Ich habe die Abspielgeschwindigkeit in meiner Hörbuch-App zuerst auf x1.25, dann auf x1.5 gestellt, um den allzu flachen Spannungsbogen künstlich etwas anzuheben. Änderte aber auch nichts an den aalglatten, uninteressanten Figuren. In einem Punkt stimme ich Annika und der Autorin aber zu: hier ist es schön! Zum Glück brauche ich keinen Roman, um diese wunderschöne Region Deutschlands mit allen Sinnen zu erleben!
Die Liebe braucht ein ganzes Dorf
Kerstin Rubel
USM Audio, 2022
ISBN 9783803292865
Dieses Hörbuch wurde mir als kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag über die Plattform NetGalley zur Verfügung gestellt.